In den letzten Monaten auf Social-Media-Plattformen innerhalb der Bookbubble (insbes. Instagram, Threads, TikTok) hat ein Phänomen zugenommen, das insgeheim stark polarisiert, über das aber niemand reden will: „Pity Marketing“ wird es liebevoll genannt und verharmlost damit die berechnende Manipulation, die Autorinnen und Autoren gegenüber ihren (potenziellen) Lesern betreiben. In diesem Beitrag versuche ich das Thema analytisch zu beleuchten und aufzuzeigen, warum Autoren unbedingt von „Pity Marketing“ Abstand nehmen müssen – und warum sich Leser sich vor den Auswirkungen schützen sollten.
Inhaltsverzeichnis
Pity Marketing ist kein Marketing
Bei Google Scholar findet man unter „pity marketing“ keine relevanten Ergebnisse. Es handelt sich dabei nicht um eine etablierte Marketing-Methode, die in Theorie und Praxis gelehrt wird. Und das hat auch Gründe, die im Laufe dieses Beitrags mehr als deutlich werden sollten. Aus diesem Grund werde ich es fortan nur noch als Pity „Marketing“ bezeichnen.
Fun Fact: Bei Google ist das erste Suchergebnis ein Reddit-Post namens „How to Use Pity Marketing to Sell Books“. Ein trauriges Spiegelbild der aktuellen Bookbubble.


Was ist Pity „Marketing“ nicht?
Damit keine Missverständnisse entstehen, liste ich hier Dinge auf, die Leute auch öfter posten, die ich persönlich aber nicht dazu zähle:
- Reale, ungelogene (!) Einblicke hinter die Kulissen, die auch mal negativ sein können
- Aufrufe zum nicht-monetären Support (z. B. Post teilen, Buchblogger-Suche, etc.)
Woran mache ich Pity „Marketing“ fest?
Wenn bezüglich des Inhalts eines Postings die Frage „Was ist das Hauptargument in diesem Post, das Buch zu kaufen?“, die Antwort nichts mit dem Buch selbst zu tun hat, sondern nur mit Gründen wie „Dem Autor/der Autorin geht/ging es so schlecht.“
UND in diesem Post auch aktiv (direkt oder indirekt) mit dieser Begründung dazu aufgerufen wird, das Buch zu kaufen.
Bonuspunkte gibt es, wenn:
- hinreichender Verdacht besteht, dass der Wahrheitsgehalt des Posts nicht 100 % beträgt
- der Post von Menschen stammt, die sich das halbe Jahr über als supercoole erfolgreiche bestsellerschreibende Marketinggenies positionieren, während sie das andere halbe Jahr über Jammer-Content posten, Pardon, Pity „Marketing“ betreiben
Häufige Aussagen beim Pity „Marketing“:
- „Ich habe zu viele Bücher gedruckt und muss sie dringend loswerden“
- „Der Buchhandel legt meine Bücher nicht aus“
- „Wenn dieses Buch floppt, muss ich hinschmeißen“
- Zusätzlich: hohe, brüchige Stimme, glänzende Augen, gequälter Gesichtsausdruck
An dieser Stelle will ich noch einmal den berechnenden Charakter von Pity „Marketing“ betonen. Die Leute können im Internet schreiben und behaupten, was sie wollen, und nichts davon muss wahr sein. Das Ziel von Pity „Marketing“ ist es in den meisten Fällen nicht, über wahre Gegebenheiten zu informieren, sondern mit einer ausgeklügelten mitleiderregenden Geschichte kurzfristig die Verkaufszahlen zu erhöhen.
Pity „Marketing“ ist unethisch
Ihr habt doch sicher auch schon mal von Influencern gehört, die an 364 Tagen im Jahr eine heile Luxuswelt präsentieren und dann auf einmal ihre Fans bitten, ihnen Geld für was auch immer zu spenden (z. B. Steuerschulden). Kommt ziemlich abartig rüber, oder?
Pity „Marketing“ ist nichts anderes. Der einzige Unterschied ist, dass kein Geld geschickt, sondern stattdessen für ein Buch ausgegeben wird.
Leser werden emotional erpresst und gegaslighted.
Es wird Mitgefühl ausgelöst, das aber auch schnell schlechtes Gewissen werden kann.
Sollten Lügen genutzt werden, wird das fehlende Fachwissen und die Gutgläubigkeit der Bookbubble ausgenutzt.
Sollte die Story hinter dem Pity „Marketing“ real sein, wird versucht, die Folgen der eigenen Fehlentscheidungen auf Dritte abzuwälzen.
Es wird Druck gemacht, ein Buch zu kaufen, das man andernfalls nicht gekauft hätte, was zu kognitiver Dissonanz führen kann.
Oder in einem Wort: Manipulation. Man könnte sagen, Marketing ist in vielen Fällen Manipulation, aber es gibt einen klaren Unterschied zwischen ethisch angemessener und ethisch fragwürdiger Manipulation. Und ich glaube, wir können uns alle darauf einigen, dass Pity „Marketing“ aus den oben genannten Gründen nicht ethisch ist.
Warum wird Pity „Marketing“ überhaupt betrieben?
Die einfache Antwort ist: um kurzfristig die Verkaufszahlen zu erhöhen, zum Beispiel, wenn man sich Chancen auf einen Spiegel Bestseller ausrechnet oder einfach aktuell etwas unzufrieden ist. Komplizierter wird es aber, wenn man sich fragt: Warum müssen sie dafür unbedingt zum manipulativen Pity „Marketing“ greifen? Da wir nicht in die Köpfe solcher Menschen hineinschauen können, halte ich mich hier mit Mutmaßungen zurück. Ich bin mir aber sicher, dass es hier zwei Kategorien gibt: die einen, die es nachmachen, weil sie sehen, dass es „funktioniert“ (z. B. wenn ein solcher Post viel Aufmerksamkeit bekommt; siehe dazu auch meinen Artikel zu „Buchmarketingpanik“ in der Federwelt), und sie FOMO bekommen würden, wenn sie es nicht auch machen würden. Und die anderen, die bereitwillig ihre Zielgruppe für den eigenen kurzfristigen Erfolg („Erfolg“) manipulieren wollen.
Fazit: Pity „Marketing“ lohnt sich nicht
Ich habe ein Video zu diesem Thema hochgeladen und Pity „Marketing“ ausgecalled. Wer hat hauptsächlich kommentiert? Leserinnen. Also genau die, auf die Pity „Marketing“ ausgerichtet ist. Und diese Zielgruppe ist vor allem eines: genervt. Selbst wenn die Verkaufszahlen nach einem Jammerpost (und das ist ein viel treffenderer Begriff) nach oben gehen, könnten auf jedes verkaufte Buch eine Vielzahl an Lesenden kommen, die davon abgeschreckt werden.
Man kann es mit Kundenbeschwerden vergleichen: 96 % enttäuschter Kunden (oder Social-Media-Nutzer) werden sich niemals aktiv beschweren (also z. B. nicht kommentieren, dass sie ein Pity „Marketing“ Video blöd finden), was aber nicht bedeutet, dass sie zufrieden damit sind. 91 % werden schlichtweg aufhören, deine Kunden zu sein (aka, deine Bücher nicht (mehr) kaufen).

Ergo: Nur weil ein Pity „Marketing“ Post viele (positive) Kommentare bekommt, bedeutet das nicht, dass es nicht eine Vielzahl mehr Menschen gibt, die davon abgeschreckt werden. Genau das ist das Gefährliche daran: Man sieht überhaupt nicht, welche verheerenden Auswirkungen es hat. Wer Pity „Marketing“ betreibt, riskiert, dass er blockiert oder fortan aktiv gemieden wird. Ist das wirklich ein Preis, den man langfristig bezahlen will?
Fazit für Schreibende, die Pity „Marketing“ in Erwägung ziehen: Pity „Marketing“ lohnt sich nicht. Hört auf, eure (potenziellen) Leser auszunutzen und zu manipulieren. Nur weil die Manipulation online und nicht face to face stattfindet und die Schamgrenze im digitalen Raum sicherlich geringer ist, ist es noch lange nicht in Ordnung. Es ist unethisch – und ich persönlich mache um Bücher von Menschen, die sich nicht ethisch verhalten, einen großen Bogen.
Fazit für Lesende in der Bookbubble: Versuche mit den oben genannten Beispielen, ein Gefühl für Pity „Marketing“ zu bekommen und die Anzeichen in Posts, mit denen du tagtäglich auf Social Media konfrontiert wirst, zu erkennen. Das schafft eine Grundlage, dich nicht emotional manipulieren zu lassen, kognitive Dissonanzen zu vermeiden und – das muss man jetzt auch einfach mal sagen – dich nicht ausbeuten und verarschen zu lassen.


